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Nachhaltigkeit – 29.01.2021, 09:33 Uhr

Papier-Recycling ist klimaschädlich – eine amerikanisch/englische Studie verwirrt die Branche

Das Recycling von Papier gilt im grafischen Gewerbe als wichtiger Bestandteil der Kreislaufwirtschaft, denn es setzt dort seit Jahrzehnten beispielhafte Maßstäbe bei der Klima- und Ressourcenschonung. Nun stellt eine Studie, die im Oktober 2020 in der Zeitschrift Nature Sustainability veröffentlicht wurde, die definitiven Umweltvorteile des Papierrecyclings in Frage und verunsichert gleichermaßen umweltbewusste Druckunternehmer, Medienproduktioner und Printbuyer. Dabei ist die Faktenlage der Studie mehr als dürftig.

Seit der Einführung des Umweltzeichens Blauer Engel vor dreißig Jahren, gibt es Recyclingpapiere mit diesem Label auf dem Markt. Sie sind nicht nur innovativ, sondern helfen in hohem Maß, Ressourcen zu schonen, insbesondere das Ökosystem Wald; sie tragen zum Schutz des Klimas bei und zur Verminderung des Abfallaufkommens, besonders beim Einsatz von Altpapier aus Haushalten und Gewerbe. Warum dies nun nicht mehr gelten soll, sondern noch dazu als schädlich fürs Klima bezeichnet wird, darf und muss hinterfragt werden.

Zwei Studien – ein Ergebnis

Im Mai 2019 erschien eine Studie des IVL Swedish Environmental Research Institute mit dem Titel Umweltvorteile bei der Herstellung von Frischfaser-Papier. Diese Studie wurde von der Holmen Group Aktiengesellschaft in Auftrag gegeben, einem der größten schwedischen Forstwirtschaftskonzerne mit Schwerpunkten in der Zellstoff- und Papierindustrie.

Vier Monate später, im September 2019, erschien im Journal nature sustainability eine zweite Studie, durchgeführt von Forschern der Yale University und des University College London, mit dem Titel Begrenzte Klimavorteile des weltweiten Recyclings von Zellstoff und Papier.

Sowohl die bezahlte wie die unabhängige Studie kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Das Recycling von Altpapier sei ökologisch nicht so sinnvoll, wie bislang angenommen wurde. Weiterhin habe die Herstellung von Recyclingpapier wahrscheinlich nur begrenzten Klimanutzen und stelle sogar eine höhere Belastung für das Klima dar, als die Produktion von Papier aus Frischfasern.

Ausgangslage der amerikanisch/englischen Studie

Die Forscher Stijn van Ewijk, Julia A Stegemann und Paul Ekins beschreiben die Thematik der Studie wie folgt:

Von einer Kreislaufwirtschaft wird erwartet, dass sie Nachhaltigkeitsziele durch einen effizienten und zirkulären Einsatz von Materialien erreicht. Abfallrecycling ist ein wichtiger Bestandteil einer Kreislaufwirtschaft. Bei einigen Materialien sind die potenziellen Umweltvorteile des Recyclings jedoch unklar oder umstritten.

Hier konzentrieren wir uns auf den globalen Papierlebenszyklus, der 1,3% der globalen Treibhausgasemissionen verursacht, und schätzen das Klimaschutzpotenzial der Zirkularität.

Wir modellieren Materialverbrauch, Energieverbrauch und Emissionen bis 2050 für verschiedene Ebenen des Abfallrecyclings und der Abfallverwertung. Wir zeigen, dass Emissionspfade, die mit einem Ziel der globalen Erwärmung von 2 ° C vereinbar sind, eine starke Reduzierung der Kohlenstoffintensität der Strom- und Wärmeerzeugung erfordern.

Wir zeigen auch, dass zusätzliches Recycling geringe oder negative Vorteile für die Eindämmung des Klimawandels bringt, wenn es kohlenstoffreichen Netzstrom benötigt und jungfräulichen Zellstoff verdrängt, der durch kohlenstoffarme Zellstoffnebenprodukte angetrieben wird. Die Ergebnisse zeigen, dass die Bemühungen der Kreislaufwirtschaft die energetischen Auswirkungen des Recyclings sorgfältig abwägen sollten.


Die grundsätzliche Aussage der Studie beruht auf der Begutachtung von Prozessabläufen bei der Zellstoffproduktion, wie sie zum Beispiel bei der schwedischen Papiermühle Iggesund Paper Board, dem weltgrößten Hersteller von grafischem Karton der Marke Invercote zum Einsatz kommen. Iggesund stellt den für die Herstellung von Frischfaserpapieren erforderlichen Zellstoff nach dem Sulfatverfahren her.

Die Herstellung von Zellstoff nach diesem Verfahren, beinhaltet das Kochen des Holzmaterials, um Zellulosefasern freizusetzen, die etwa die Hälfte des Holzmaterials ausmachen. Der Rest besteht aus dem Bindemittel des Holzes, das hauptsächlich aus einer energiereichen Substanz namens Lignin besteht und die bei diesem Vorgang ausgewaschen wird. Die Energie im Lignin wird in einem Rückgewinnungskessel zurückgewonnen und sowohl in thermische als auch in elektrische Energie umgewandelt, die für den Herstellungsprozess benötigt werden und mit Hilfe dieses Verfahrens teilweise eine klimaneutrale Produktion frei von fossilen Energien ermöglichen.

Ob dieses Verfahren aber generell und weltweit ausschließlich zum Einsatz kommt, wird in der Studie nicht aufgeführt.

Im Gegenschluss zu dem beschriebenen Verfahren verweist die Studie darauf, dass bei der Herstellung von Recyclingpapier daher deutlich mehr fossile Energie verwendet wird als bei der Produktion von Primärfaserpapier. Beim Papierrecycling wird Strom aus dem Netz oder aus Erdgas verwendet – beides Energiequellen mit einem hohen Anteil an fossilen Rohstoffen. Papier aus Primärfasern lässt sich, wie am Beispiel Iggesund Paper Board veranschaulicht, mit fossilfreier Energie herstellen, die aus Nebenprodukten des Holzaufschlusses stammen.

Eine Studie des Heidelberger IFEU-Instituts kommt jedoch zu einer völlig anderen Bewertung.

Der Energiebedarf der Zellstoffherstellung aus Holz ist generell deutlich höher als der zur Altpapieraufbereitung, ebenso der Treibhauseffekt – trotz eines erheblichen Einsatzes von Produktionsreststoffen (Ablauge, Rinde) bei der Energiegewinnung zur Frischfaserherstellung, wie sie von Iggesund Paper Board angewendet wird.

Die Produktion von Recyclingpapier schneidet bei den Indikatoren fossiler Ressourcenbedarf, Treibhauseffekt und Versauerung im Vergleich deutlich besser ab als die Frischfaserpapierherstellung

Zudem führen die erhöhten Sulfatgehalte der Ablauge bei der Energiegewinnung zur Frischfaserherstellung zusätzlich zu einem deutlichen Anstieg der Versauerung bei der Primärpapierherstellung.

Zu berücksichtigen sind auch die oft langen Transportwege für Primärfasern, vor allem südlicher Herkunft, die sich besonders stark auf den fossilen Ressourcenbedarf und den Treibhauseffekt auswirken.
Außerdem ist der Prozesswasserbedarf der Frischfaserherstellung deutlich höher und auf die großen Unterschiede bei der Zellstoff- und Recyclingpaper-Herstellung zurückzuführen. Das Kochen des Holzes zur Fasergewinnung ist ein wasserintensiveres Verfahren als das Recyclingverfahren.

Wissenschaftliche Mängel der amerikanisch/englischen Studie

In der Studie wurden der Herstellung des Recyclingpapiers zusätzlich 50 Prozent der Frischfaserpapierherstellung (also CO2-Emissionen etc.) mit aufgebürdet, das heißt: Es wurde eine sogenannte Allokation – also die Zuordnung beschränkter Ressourcen zu potenziellen Verwendern- durchgeführt. Erstens ist dieser Ansatz nicht nur unüblich und nach Auskunft der Forschungsgemeinschaft INGEDE stark verfälschend, und zweitens berücksichtigt er auch nicht, wie oft eine Faser tatsächlich wiederverwendet werden kann.

Die diesbezügliche Aussage der Studie ist daher insofern falsch, als hier behauptet wird, dass Fasern nur 5–7 Mal wiederverwendet werden können.

Eine Studie der TU Darmstadt (siehe INGEDE News Ende 2019) hat hierzu jedoch erneut bestätigt, dass selbst nach 20 Recyclingzyklen die allermeisten Fasern noch voll funktionstüchtig sind.

Bei gleicher Papierqualität ist die für die Frischfaserproduktion benötigte Energiemenge definitiv deutlich höher als für die Recyclingpapierproduktion.

Dennoch werden in der amerikanisch/englischen Studie geringere CO2-Emissionen ausgewiesen, was auf den besonderen Strommix in Schweden zurückzuführen ist, der im Wesentlichen zu etwa gleichen Teilen aus Atomstrom und Wasserkraft besteht. Atomstrom wird in Ökobilanzen häufig als klimaneutral bewertet, weshalb hier ebenfalls keine direkten CO2-Emissionen entstehen.

Zudem wurde in der amerikanisch/englischen Studie ein Magazinpapier der Holmen Group, basierend auf 100 Prozent thermomechanischem Holzstoff (TMP) und ein Magazinpapier eines deutschen Papierherstellers auf Basis von 100 Prozent Altpapier verglichen. Dabei wurden nicht die spezifischen Verbrauchswerte des deutschen Herstellers berücksichtig, sondern Biologische Arbeitsstoff Toleranzwerte (BATW) wie sie in den USA und auch Schweden für die Definition von Stoffgemischen zur Anwendung kommen. Letztere führen zu anderen Werten als die spezifischen Werte, die bei führenden deutschen Recyclingpapierherstellern vorliegen. Ein direkter Vergleich wird somit unmöglich.

In der Studie wurden weder Angaben zum Frischwasserverbrauch, zur Abwassermenge und Abwasserverschmutzung, noch zu Art und Menge der verwendeten Chemikalien gemacht.

Aus allen bisherigen seriösen Studien ist jedoch bekannt, dass gerade Papiere, die aus 100 Prozent Recyclingfasern bestehen, beim Wasser- und Chemikalienverbrauch besonders günstig abschneiden.

Letztendlich kommt die amerikanisch/englische Studie zu dem Schluss, dass ohne Änderungen am Energiemix, der für das Papierrecycling verwendet wird, die Emissionen fossiler Brennstoffe noch steigen werden. Wobei aber keine Auskunft darüber gegeben wird, welcher Energiemix dieser Aussage zu Grunde liegt.

Natürlich werden auch seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht bestreiten, dass Papierrecycling ebenfalls CO2 emittiert und daher messbare Auswirkungen auf das Klima hat. Und ebenso wenig kann bestritten werden, dass Energie aus nachwachsenden Rohstoffen auch beim Recycling die bessere Alternative ist. Dennoch bleibt unbestritten, dass trotz aller noch existierender Mängel, die heutige Form des Papierrecyclings ein wesentlich geringeres Maß an Umweltauswirkungen bedeutet, als die Herstellung von Frischfaserpapier.

Fachpresse verwechselt Marketing mit Wissenschaft

Leider hat die Studie, ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Mangelhaftigkeit, in der Branche für erhebliche Irritationen und Aufregung gesorgt, gerade bei seriös nachhaltig produzierenden Druck- und Medienunternehmen. Und mehr noch bei jenen Druckunternehmen, die nach Blauer Engel DE UZ 195 zertifiziert sind, oder sich gerade zertifizieren lassen. Deren jahrelanges Engagement für Blauer Engel-Druckprodukte aus Recyclingpapier, die eine wichtige Funktion beim Klimaschutz übernehmen, wird damit grundsätzlich in Frage gestellt.

Geschuldet ist dies jedoch nicht wissenschaftlich stichhaltigen Aussagen und Argumenten, die diese Studie kolportiert, sondern der unseriösen Manier eines sensationsgeilen Boulevardjournalismus. Offenbar bedienen sich mittlerweile auch Redakteure der Fachmedien dieser Form der Berichterstattung. Ohne sich um eigene Recherche zu bemühen, verbreiten sie in der Fachwelt völlig unreflektiert einen sachlich und faktisch fragwürdigen Pressetext, der hauptsächlich zu Marketingzwecken veröffentlicht wurde, um auf diese Weise eine effektiv funktionierende und klimaschonende Methodik der Kreislaufwirtschaft in Misskredit zu bringen.

Quellen:
Stijn van Ewijk, Julia A Stegemann und Paul Ekins: „Limited climate benefits of global recycling of pulp and paper“, Nature Sustainability 2020.

Studie des IVL Swedish Environmental Research Institute Holmen-LCA-report-summary.pdf

Autor: Guido Rochus Schmidt
Umweltexperte und Autor
Guido Rochus Schmidt war von 1979 bis 2013 Geschäftsführer der Ulenspiegel Druck GmbH & Co. KG, die 1999 als erste Druckerei Bayerns das EMAS-Zertifikat der Europäischen Union erhielt. Als Umweltexperte betreute er von 1999 bis 2017 die ökologische Fortentwicklung des Unternehmens. Seit 2017 berät der Experte Unternehmen bei allen Fragen der Nachhaltigen Medienproduktion.

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